Dies ist mein wohl längster und persönlichster Blogpost. Nimm Dir also bitte vorher noch etwas zu trinken, setze Dich bequem hin und stelle Dich darauf ein, etwas länger lesen zu "dürfen". Der Text entstand ursprünglich als Beitrag zu einem Mutmacher-Buch, welches seitens der herausgebenden Kollegin am Ende jedoch nie realisiert wurde. Dieser Text erzählt Dir vielleicht mehr über mich, als jeder andere auf dieser Seite ... und er enthält einige Learnings, die vielleicht auch Dir nützlich sein können.
Sein Name war Arnulf. Arnulf Sigurd, um genau zu sein. Der Mann, von dem ich hier schreibe, starb viel zu früh. Am 13. Juli 1993. Mit gerade mal 59 Jahren. An einer simplen Blutvergiftung. Dieser vorausgegangen war eine insterile Spritze, die er gegen Ischiasschmerz bekommen und die sich entzündet hatte. Der Hausarzt hatte die Situation wohl zu wenig ernst genommen. Der daraus resultierende, wohl sehr schmerzhafte, Abszess hatte - statt sich zu verkapseln - die Lymphe im linken Bein erwischt. Darauf folgte eine Sepsis, die ihn nach fast 60 Minuten intensiver Wiederbelebung ... sterben ließ.
Arnulf Sigurd Schöbitz - war mein Vater.
Doch lass uns von vorne beginnen, denn es geht ja um meinen persönlichen Mut zum (durchaus mehrfachen) Neuanfang: Ich bin Bettina Sabine Schöbitz. Ich wurde am 05.01.1965 in Düsseldorf geboren und mit nur drei Jahren nach Mettmann umgezogen. Meine Eltern hatten ein kleines Reihenhaus gekauft, welches sie liebevoll „Scheibchenvilla“ nannten. Mein Papa war Wirtschaftsjournalist und später Inhaber eines kleinen Verlages für Informationsdienste. Meine Mutter Hausfrau und - unterstützend - auch im Verlag tätig.
„Kind, lern erstmal was Anständiges“. Und so bewarb ich mich bei der Bank. Das galt damals als „anständig“- ich wurde Bankkauffrau und später eine der ersten Börsenhändlerinnen in Deutschland. Der Job auf dem Börsenparkett machte mir irre viel Spaß, weil er so ganz anders war als das typische 9 to 5-Sparkassendenken. Ich war in meinem Element.
Dieses Foto entstand auf unserer letzten gemeinsamen Reise im März 1993 auf dem Balkon des Hotels Villa Castagnola au Lac in Lugano. Mein Vater hatte spontan die Suite gemietet - und Champagner aufs Zimmer bestellt. Das war sein - in meiner Erinnerung - einziger Anfall von Größenwahn. Meine Mutter fand später heraus, was der Spaß gekostet hatte ... und heute wissen wir: Es war genau die richtige Entscheidung. Dieses ist mein absolutes Lieblingsbild von ihm. Er war 59 Jahre alt. Ich selbst werden 2024 auch 59 ...
"Kind, lern erstmal was Anständiges!"
Und so bewarb ich mich bei der Bank. Das galt damals als „anständig“. Ich wurde also Bankkauffrau und später eine der ersten Börsenhändlerinnen in Deutschland. Der Job auf dem Börsenparkett machte mir irre viel Spaß, weil er so ganz anders war als das typische 9 to 5-Sparkassendenken. Ich war in meinem Element. Ich liebte dieses quirlige, laute Berufsleben.
Wenn aus dem Beruf Berufung wird
Deshalb griff ich zu, als ich das Angebot bekam, von Düsseldorf an die Börse Frankfurt - dem besten deutschen Bankplatz - zu wechseln. Samt Umzug und neuem Freundeskreis. Mein erster kompletter Neuanfang. Ich heuerte bei einer großen französischen Bank an, bei der es im Vorstellungsgespräch weniger um meine Kompetenzen, als um wunderschöne Kunst in Form einer Marmor-Melone und die beste Kantine von Frankfurt ging: Auf die diese Bank vollkommen zurecht stolz war. Ich habe sogar mit dem Küchenchef mal zwei Tage zusammen dort gearbeitet!
Wer mich auch nur ein wenig kennt weiß, dass dieses Beste-Kantine-Argument des Geschäftsführers mich durchaus erreichte. Und den Ruf der besten Kantine Frankfurts hatte sie auch absolut zurecht. Weißwein zum Lunch und die Krawatten zum Schutz über die Schultern geworfen - savoir vivre halt.
Doch bereits nach gut vier Monaten wurde ich aktiv von einem unserer Kunden abgeworben. Ich wechselte zu einem Freimakler. Rückblickend kann ich Dir sagen: so hart hatte ich noch nie gearbeitet. Nächtelang haben wir im Büro verbracht, damit wir die Börsen-Eröffnung in New York oder Tokio nicht verpassten. Tagsüber saß ich vor 12 Lautsprechern, hatte zwei Telefonhörer und handelte DM-Eurobonds, Bundesanleihen und Aktien. Total aufregend und cool. Wenn der Mensch Mitte 20 ist … heute wäre es für mich undenkbar. Komplette Überforderung.

Nur noch selten lief ich zur Börse
Manchmal ging ich noch aufs Börsenparkett - vorbei an Bulle und Bär, die die Frankfurter Börse auf dem Vorplatz schmücken.
Irgendwann war es mir wegen der Arbeitsbelastung und dem Mobbings im Hause - immerhin wollte jeder die guten Boni! - zu viel. Ich wechselte zu einer deutschen Großbank. Und fühlte mich ganz oben, als ich ein halbes Jahr später den Anruf der Personalabteilung bekam, ob ich denn nicht als Wertpapierspezialistin auf der Gebietsfiliale Wiesbaden (da wohnen dann doch eher vermögende Kunden …) arbeiten wolle. Und WIE ich wollte. Das war genau mein Ding.
Der nächste Schritt auf der Karriereleiter
Und so kam es, dass ich mich mit Udo K. - einem eher konservativ ausgerichteten Berater - und Christoph G. - einem sehr kreativ-mutigen Berater - in einem Team wiederfand. Mein Job machte mir unfassbar Spaß, so hätte es weitergehen dürfen. Als Christoph irgendwann gesundheitlich länger ausfiel, bat er mich - zu dem Zeitpunkt noch offiziell im Trainee-Status für den Job - seine Kunden zu übernehmen. Er traute mir zu, was ich mir selbst noch nicht zutraute. Mit voller Billigung der Geschäftsleitung. Ich war in meinem Traumjob angekommen. So hätte ich noch ewig weiterarbeiten können. Ich war zudem frisch verliebt und es sah alles danach aus, dass meine Liebe erwidert wurde. Es war - rückblickend - die schönste berufliche Phase meines Lebens.
Nach gut anderthalb Jahren bekam ich im Juni 1993 eines Abends einen Anruf von meinem Vater. Er erzählte mir, dass es ihm gesundheitlich gar nicht gut ginge. Und dass er Angst hätte, den nächsten anstehenden Informationsdienst, den er mit seinem Verlag alle 14 Tage publizierte, kaum ausliefern zu können. Weil er momentan so außer Gefecht gesetzt sei. Durchgeschwitzte Nächte, heftigste Schmerzen im unteren Rücken. Halt, Stopp! Meinem starken Vater ging es nicht gut? Das hatte es ja noch nie gegeben.
Mein starker Papa - mal schwach?
Mein Papa weinte fast, weil er solche Schmerzen hatte. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Nie zuvor hatte er fast eine ganze Stunde mit mir telefoniert.
Mein Vater, dem ich so verdammt ähnlich sehe und bin. Den ich vergötterte, weil wir so ein intensives Verständnis füreinander hatten. Darauf war meine Mutter oft beinahe eifersüchtig.
Also beschloss ich, am folgenden Wochenende mit einer Freundin, die ohnehin gen Düsseldorf wollte, nach Hause zu fahren. Sie wollte mich zu meinen Eltern bringen und Sonntagabend wieder abholen. Und so besuchte ich mein Elternhaus. Meine Mutter hatte am Vortag meinen Vater aufgrund der Schmerzen ins Krankenhaus einliefern lassen. Klar fuhren wir ihn besuchen. Er war vormittags operiert worden (das Stichwort Eiter wird Dir an dieser Stelle sicher genügen ...). Entsprechend matt, doch guter Dinge, lag er im Krankenhausbett. Ihm war geholfen worden und wir scherzten über das Mittagessen-Angebot am Folgetag, auf welches er sich freute. Rouladen sollte es geben ...
Nach einem erneuten Besuch am Sonntagmittag stieg ich sehr zuversichtlich wieder zu meiner Freundin ins Auto.
Wir fuhren gut gelaunt wieder gen Frankfurt. Vor der Garage meiner Wohnung stehend sprachen wir auch über meine unfassbare Angst, irgendwann meinen geliebten Vater zu verlieren. Kaum war ich oben in meiner Wohnung, rief ich daheim an, um meiner Mutter zu sagen, dass wir heil wieder daheim wären. Sie ging nicht ran. Also rief ich - Banker haben ein verdammt gutes Zahlengedächtnis - im Krankenhaus an und fragte nach meinem Vater. Sie fragte nach seinem Namen. Ich antwortete: „Arnulf Sigurd Schöbitz. Geboren am 14.11.1934“.
Die Intensiv-Schwester antwortete gefühlskalt:
„Ihr Vater ist soeben verstorben“.
An Blutvergiftung. In einem deutschen Krankenhaus. Ich kann ihre Stimme heute noch hören. Ich saß allein in meiner Wohnung in Kronberg. In genau diesem Moment schaltete mein Kopf in den Überlebensmodus. Ich rief meinen Kollegen Udo an, um meine Vertretung in der Bank zu regeln. Er reagierte unfassbar großartig. Er schickte mich zum Kühlschrank, verderbliche Sachen einzupacken oder zu entsorgen. Danach zum Kleiderschrank: Schwarze Klamotten in einer Tasche sammeln und weitere Kleidung für ein paar Tage. Blumen gießen. Ich solle meinen Personalausweis einpacken und mir wichtige Telefonnummern aufschreiben. Ich funktionierte.
New York, New York - volle Kanne
Er bot sogar an, mich nach Mettmann zu fahren in dieser Nacht. Doch mir war wichtiger, dass er in den Folgetagen unser Wertpapier-Business alleine stemmen könnte. Also setzte ich mich in meinen knallroten Toyota Corolla, stellte Frank Sinatras New York, New York auf volle Lautstärke und fuhr schnellstmöglich zurück gen Heimat. Ich war wie betäubt …
Zu Hause saß meine Mutter auf dem Sofa, ein Freund der Familie hatte sie ins Krankenhaus gefahren, als der Anruf kam: „Ihr Mann kollabiert, wir reanimieren.“ Sie hatte gar nicht verstanden, was damit gemeint war - nur, dass sie schnell kommen solle. Geistesgegenwärtig hatte sie einen Freund um Fahrservice gebeten.
Mein Vater war ...
Das alleine wäre schon mehr als genug gewesen, mich tief ins Loch zu reißen. Doch binnen weniger Stunden kam ein weiteres Problem hinzu: Die komplette wirtschaftliche Existenz meiner Mutter - damals 51 Jahre alt - hing von diesem Verlag ab. Zum Schmerz über den Verlust kam die Zukunftsangst. Und ich? Ich funktionierte. Ich organisierte mit ihr die Bestattung, was im Grunde schon eine eigene Geschichte wert wäre, denn im ersten Bestattungsunternehmen sind Muttern und ich nach vier Stunden (!!!) dilettantischer "Fürsorge" einvernehmlich … aufgestanden. Mit den Worten: „Sie bringen ihn nicht unter die Erde!“ Gott, war das respektlos und verletzend, was da ablief. Beim zweiten Unternehmen waren wir nach einer Stunde mit allem zu Regelnden durch.
Ich habe am Grab meines Vaters kaum geweint. Zu stark war der Schmerz. Und auch der „Du-musst-funktionieren“-Modus. Später dann konnte ich nur unter heftigsten Heulkrämpfen diesen Friedhof betreten. Nein, ich will nie, nie, nie auf einem dieser kalten Orte landen.
Ich spürte Haltlosigkeit
Da stand ich nun: Zutiefst traurige Tochter, der das Leben gefühlt ein sehr wichtiges Stück brutal „rausgerissen“ hatte. An meiner Seite eine zutiefst verängstigte und ob der neuen Lage unbeholfene Mutter. Mein Leben und meine Liebe in Frankfurt. Und nun? Welche Perspektiven gab es?
Ich hätte sterben mögen …
Mein Vater war tot! Unvorstellbar! Von jetzt auf gleich! Was sollte ich dann noch in diesem Leben? Mit fehlte jegliche Perspektive. Zehn Tage nach dem Tod und fünf Tage nach der Beerdigung meines Vaters stand die nächste Ausgabe der beiden Informationsdienste an, die sein kleiner Verlag publizierte. Davon hing so vieles ab - vor allem die (finanzielle) Zukunft meiner Mutter. Und so entschied ich mich, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen und von 0 auf 100 zur Verlegerin und Journalistin zu mutieren. Inklusive Umzug von Kronberg nach Mettmann. Unter Aufgabe der neuen Liebe. Kein einfacher Schritt. Ich funktionierte.
Hier galt es, eine ganz besondere Hürde zu nehmen: Denn die beiden Informationsdienste bezogen extrem wertvolle Informationen von einem „hohen Tier“ in Brüssel bei der EU. Und nur wenn dieser Informant mich, die kleine 28-jährige Bettina mit bisher kaum Branchenkenntnissen, als Gesprächspartnerin akzeptieren würde, könnte es überhaupt erfolgreich weitergehen.
Du kannst Dir sicher vorstellen, wie heftig mein Herz geklopft hat, beim ersten dieser telefonischen Infomeetings. Wir schrieben das Jahr 1993, also noch weit vor Online-Meetings. Es lief alles nur übers Telefon. Der Informant rief alle 14 Tage zu einem fest vereinbarten Zeitpunkt an und lieferte rund 30 Minuten die aktuelle Informationslage.
Sprung ins kalte Wasser …
Schließlich ging es darum, in mir eher fremdem Metier - es ging in den beiden Informationsdiensten einmal um Verkehr (vom Rad bis zum Flugzeug) und einmal um Energie (von Strom über Kohle und Gas bis Kernkraft) - schnell gesprochene Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Um dann lesbare und inhaltlich korrekte Artikel daraus zu schreiben. Welche - hoffentlich - vom Informanden akzeptiert würden. Rückwirkend betrachtet der pure Irrsinn.
Mein Mutter und ich saßen also schweißgebadet am Telefon, als der erste Anruf kam. Sie erklärte dem Herrn erst einmal die veränderte Sachlage: Der geliebte Mann tot, die Tochter in viel zu großen Fußstapfen. Immerhin - der Informant erklärte sich bereits, es mit uns als neuem Team zu probieren. Also pinnten meine Mum und ich 30 Minuten jede Menge Information so gut wie möglich mit. Zeit für Nachfragen war keine vorhanden. Also hieß es anschließend: Bettina, mach was draus!
An diesem Tag hat mich die Konzentration hochgehalten. Begleitet von der Nervosität, ob meine Texte dem Herrn genügen würden und er uns weiter mit extrem wertvollen Informationen beliefern würde. Die Qualität meiner Arbeit war in diesem Moment entscheidend für unser beider Zukunft. Hoher Druck lastete auf meinen Schultern.
Das Feedback
Die fertigen Texte schickten wir per Fax nach Brüssel, so war es mit dem Informanden vereinbart. Er würde sich dann melden …
Eine Bange Zeit folgte. Denn wir wussten keineswegs, wann diese Rückmeldung erfolgen würde. Du kannst Dir sicher vorstellen, wie sehr wir bibberten. Wir lenkten uns derweil mit dem Versand der Todesanzeigen ab, bei denen es im Juli 1993 zunächst galt, die neuen Postleitzahlen für alle Adressaten aus dem dicken Papier-Postleitzahlenbuch rauszusuchen. Wer dabei war, erinnert sich noch an "Rolf", das Maskottchen für die 5-stelligen Zahlen. Deswegen weiß ich für den Rest meines Lebens ganz genau, wann diese verdammten neuen Postleitzahlen kamen!
Nach zwei Stunden dann der sehnlichst erwartete Anruf. Das kurze und deutliche Feedback: Das Ergebnis ist mehr als ausreichend, sogar gut - und wir können so miteinander weiterarbeiten. Mir polterte eine ganze Steinlawine vom Herzen. Dennoch wusste ich im selben Moment: Damit beginnt mein Leben mit einer vollkommen neuen Ausrichtung … es ist wieder Zeit für einen Neuanfang. Und das unter der Last, meinen Paps niemals zu enttäuschen.
Also rief ich meinen Arbeitgeber an und ließ mich zunächst bis Jahresende 1993 unbezahlt freistellen. Mit meiner Mutter verständigte ich mich darauf, das Verlagsgeschäft zwei Jahre aktiv zu „probieren“ und dann zu entscheiden, ob der Verlag meine Zukunft wäre - oder ich zur Bank zurückkehren würde.
Mein Learning No. 1: Selbstverantwortung
Das Leben fragt nicht höflich an, ob Du Wachstum willst - sondern liefert Dir frei Haus, woran Du wachsen darfst. Das ist keineswegs immer ein schöner oder bequemer Weg - doch nahezu immer bringst Du genau das Potential mit, um diese Aufgabe zu bewältigen. Vertraue darauf. Du entscheidest lediglich, ob Du die Herausforderung annimmst - oder Dich in der Opferrolle einrichtest.
Impulsfrage: Welche Steine in Deinem Lebensweg waren für Dich erst Hürden und haben sich später als echte Helfer erwiesen? Was kannst Du daraus für Dich lernen?
Verantwortung übernehmen
Ich wurde ganz offiziell Geschäftsführende Gesellschafterin des kleinen Verlages. Zudem Herausgeberin und Redakteurin. Und hatte plötzlich die Verantwortung für mehrere Mitarbeiter, das Einkommen meiner Mutter und mein eigenes Leben. Das war ganz schön bedrückend. Zumal ich mit Verkehr und Energie in zwei sehr maskulin dominierten Bereichen Kompetenz beweisen sollte - von denen ich erstmal nur bedingt eine Ahnung hatte. Dabei half mir allerdings meine Erfahrung aus dem Börsenhandel - mit Männern arbeiten? Kann ich.
Derbe Sprüche, Testosteron-Beweiser und ja, auch kleine „Handgreiflichkeiten“ konnte ich selbstbewusst parieren. Ich konnte auch in Sachen Alkohol anständig mithalten. Zum Thema Energie bekam ich ein paar Stunden privater "Nachhilfe" aus dem Hause RWE (ein reizender Kontakt meines Vater unterstützte mich - danke dafür). Nachhilfestunden, in denen ich Dinge wie Grund- und Spitzenlast, die Funktion eines Kugelhaufenreaktors und Fachtermini wie Durchleitungsrechte lernen durfte. Mit Autos und Technik hatte ich mich schon immer gerne beschäftigt und selbst an meinem weißen Ford Escort 1,3 GL mit 69 PS und anderen geschraubt. Das half mir jetzt sehr.
Mein Learning No. 2: Grenze zur Lebensfreude
Sei mutig und erweitere Deine Grenzen. Verliere dabei nie den Gedanken daran, dass es gut ausgehen kann. Sei dankbar für alles, was gut läuft und richte Dich daran auf. Du kannst so viel mehr (aushalten), als Du glaubst. Schöpfe Dein Potential bewusst immer wieder neu aus und teste Deine Grenzen. Denn persönliches Wachstum und echte (!!!) Lebensfreude (nicht die mit Alkohol oder anders erkaufte!) gehören nahezu untrennbar zusammen.
Impulsfrage: Auf einer Skala von 1 (wenig) bis 10 (sehr mutig) würdest Du Dich bei welchem Wert einordnen?
Kleiner Tipp: Wenn Dein Wert unter Acht liegt,
dann solltest Du Dir ab sofort mehr zutrauen und Dich ausprobieren.
Ich empfehle für den Start das Buch „Sachen machen“ von Isabel Bogdan …
Gut ein Jahr wuchs ich also an allen Fronten in meine neue Rolle hinein. Zum ersten Mal saß ich bei einem Notar. Mit der Aufgabe, die Aktuell Verlag Schöbitz GMBH auf meinen Namen umzuschreiben. Ich war erstmals Geschäftsführerin. Mit allen Rechten und Risiken. Ich war plötzlich Journalistin. Ich war Verantwortungsträgerin. Das fühlte sich erst beängstigend, dann ungewohnt und am Ende sogar ziemlich gut an. Doch es war eine sehr bewegte Zeit meines Lebens. Sie veränderte mich komplett. Ich war … erwachsen.
Massive persönliche Veränderung
Der ganze Prozess machte etwas mit mir: Ich wurde selbstbewusster, entschied zielgerichteter und kommunizierte mit teils deutlich älteren Entscheidungsträgern. Auf Augenhöhe. Weil diese etwas von mir wollten: Positive Berichterstattung. Informationen. Flirten. Und weil ich etwas von ihnen wollte: Exklusive Informationen, Abonnements und eine angemessene Berücksichtigung meines Verlages.
Ich habe nach dem Tod meines Vaters einfach erstmal nur funktioniert. Wie auf Autopilot. Dann hat mich das neue, riesige Aufgabenfeld betäubt und meinen Schmerz im Zaum gehalten.
Nach Ablauf eines guten Jahres kam 1994 das erste Übernahmeangebot: Ein anderer Verlag wollte unseren Energie-Brief - also einen der beiden Informationsdienste, die mein Verlag publizierte - kaufen. Es gab ein attraktives Angebot. Meine Mutter und ich haben daraufhin tagelang abgewogen, diskutiert und Entscheidungen wieder verworfen. Uns Gedanken gemacht, wie es meinem Vater mit der Entscheidung gehen würde und was er tun würde. Denn mit der Entscheidung für einen Verkauf war klar: Dann können wir davon nicht mehr beide leben - und mein Weg führt zurück zur Bank. Das war besonders für mich eine sehr schwerwiegende Entscheidung.In der Zwickmühle
Doch der zweite Informationsdienst "Verkehrs-Brief" blieb uns erhalten. Dazu auch der Verlag an sich. Wie also könnte ich Verlag und neuen Job unter einen Hut bekommen? Würde ich eine Teilzeit-Stelle finden? Welche Aufgaben würde ich überhaupt übernehmen und welche Arbeit künftig machen wollen? Welche Ziele habe ich eigentlich in meinem Leben? Was macht für mich Sinn? Wer bin ich - und wenn ja, wie viele? Ich war in einer wirklich komplexen Gemengelage und musste wieder mal entscheiden. Es war auch eine Entscheidung für oder gegen meine Mutter. Für oder gegen mich selbst.
Am Ende fügte sich alles trefflich. Meine Freundin Lissy hatte mir immer wieder von ihrem Job Produktmanagement bei einem Parfümöl-Hersteller erzählt. Klang richtig toll und spannend. Doch sie hatte studiert und auch in London gearbeitet.
Ich bin Nicht-Akademikerin und kann keine Auslandserfahrung in die Waagschale werfen. Und doch nahm ich allen Mut zusammen und bewarb mich auf eine ausgeschriebene Stelle einer Produktmanagerin in einer großen Privatkunden-Bank in Bonn.
Glücklicher Zufall
Das Universum schickt uns manchmal Geschenke. So auch mir. Ich wurde trotz aller fehlender Erfahrung in diesem Bereich aufgrund meiner Bewerbung zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Klar hatte ich mich gut vorbereitet und hatte gute Antworten auf fast alle erwartbaren Fragen. Offensichtlich hatten mich die letzten Jahre auch mit genügend Selbstbewusstsein ausgestattet, überzeugend aufzutreten - bei relativer Ahnungslosigkeit. Das Gespräch mit dem künftigen Abteilungsleiter verlief sehr entspannt und auf Augenhöhe.
Gelassenheit beflügelt Mut
So locker sogar, dass ich mich irgendwann traute, über meine aktuelle berufliche und private Situation zu sprechen: Ich hätte da noch einen kleinen Verlag an der Backe, in dem ich einen Informationsdienst zum Thema Verkehr publizieren würde. Den müsse ich nun möglicherweise nach und nach abwickeln - doch solange müsste der Verkehrs-Brief eben doch noch alle 14 Tage erscheinen.
In diesem Moment kam Kollege Zufall ins Spiel: Der Abteilungsleiter war ein erklärter Autonarr. Insbesondere die bayerische Marke hatte es ihm angetan. Und so meinte er irgendwann: „Ich könnte mir gut vorstellen, sie einzustellen. Was sie noch nicht können, lernen sie hier. Doch ich traue ihnen nach alledem allerdings auch wirklich viel zu - immerhin haben sie sich schon einmal in kürzester Zeit in einem komplett neuen Arbeitsgebiet bewiesen“. Ich nickte erfreut.Für die Reisen zu Autovorstellungen und Terminen können sie Überstunden und Urlaub nutzen - es darf allerdings niemals zulasten des Jobs hier gehen, meinte er dann noch. Das konnte ich erleichtert zusagen.
Doch dann kam noch etwas: „Eine Bedingung hätte ich noch,“ meinte er schmunzelnd: "Sie geben mir Presseunterlagen der Münchner Marke weiter, wenn sie sie nicht mehr brauchen! Und gerne erfahre ich auch mehr von anderen Marken“. Wir hatten einen Deal.
Intensive Überlegungen mit Freunden
Was dann folgte war erstmal … Erleichterung. Ich hatte ein sehr attraktives Jobangebot. Doch daran waren auch ein paar Veränderungen geknüpft. Unter anderem ein Umzug weg von Mettmann und Muttern, hin nach Bonn. Die damals gerade "ehemalig" gewordene Bundeshauptstadt. Glaub mir, ich habe tage- und nächtelang Gespräche mit meinen Freunden geführt. Das Für und Wider abgewogen. Mir ihre Bedenken und Empfehlungen angehört. Und wieder einmal - wie schon einmal mit dem Tod meines Vaters erlebt - wie sich die Spreu vom Weizen scheidet. Denn einige Freunde haben mir intensiv abgeraten und deutlich gemacht, wie blöd sie eine Veränderung unserer Beziehung fänden. Sie äußerten Verlustängste - teils auf sehr skurrile Weise. Charmant verbrämt hinter anderen Begründungen.
Und dann gab es die echten Freunde. Denen immer mein Wohl am wichtigsten war. Die mir ihre Impulse ungeachtet dessen gegeben haben, welche Auswirkungen das auf sie hätte. Weil sie vor allem daran dachten, mich wachsen zu lassen und glücklich zu sehen.
Mein Learning No. 3: Ehrliche Freunde
Sei ehrlich und wertschätzend mit Dir selber und anderen. Manchmal ist eine Entscheidung für Dich eine Entscheidung gegen jemand anderen. Doch es ist Dein Leben. Es ist okay, sich da selbst an erste Stelle zu setzen. Und noch eines: In der Not erkennst Du Deine echten Freunde. Denn genau die sagen Dir die Wahrheit - und zwar auch dann, wenn sie für sie selbst vielleicht negative Folgen erbringen würde.
Impulsfrage: Wie ehrlich bist Du Dir selbst gegenüber und wer sind Deine echten Freunde? Wie ehrlich gehst Du mit ihnen um?
Rauf aufs Sprungbrett … und wieder hart gelandet
Und so habe ich den Job in Bonn angenommen und innerhalb eines Jahres zu meinem gemacht. Ich habe in diesem aus der Behörde zum Privatunternehmen werdenden Bankunternehmen meinen Job weitgehend selber gestalten können. Es waren die fünf schönsten Angestelltenjahre meines Berufslebens. Inklusive diverser Karriereschritte und toller Projekte.
Bis ich nach fünf Jahren den Dienst dort ganz bewusst quittierte. Der Grund: Ich wollte mehr. Ich wollte mehr Abwechslung erleben, Menschen führen, wieder Texte schreiben und veröffentlichen, kreativ arbeiten und was erleben, was ich noch nicht kannte. Leben. Und lieben.
Es folgte ein Jahr als Wirtschaftredakteurin. Das war wieder ein Job, den ich als Seiteneinsteiger gewuppt habe! Diesmal bei einer Anlegerzeitschrift in Düsseldorf, bei der witzigerweise mein Vater schon mit diesem Chefredakteur zusammengearbeitet hatte. Der leider schon nach drei Monaten unerwartet das Unternehmen verließ. Hier schließen sich die großen Fußstapfen, die mein Vater hinterlassen hatte, nahtlos um meine Füße. Ich war gewachsen. Weswegen ich auch mit dem unerwarteten neuen Geschäftsführer dieses Verlages - einem Mann in meinem Alter - anständig Probleme bekam und vor Ende der Probezeit den Dienst quittierte.
Weiter ging es dann für 13 Monate als Leiterin der Finanzkommunikation einer IT-lastigen PR-Agentur in München und … ab in die Arbeitslosigkeit. Denn 2001 brach der Neue Markt - das Börsensegment für junge Unternehmen - zusammen und die IT-Branche kränkelte gewaltig. Die teuren Führungskräfte, darunter ich mit meinem Team von acht Leuten, wurden zuerst entlassen. Eigentlich hätten wir Börsengänge betreuen sollen. Gemacht haben wir tatsächlich nur Krisenkommunikation.
Arbeitslos und deprimiert
2001 passierte noch etwas: 9/11. Die TwinTowers in New York, auf denen ich im Jahr zuvor noch selbst gestanden hatte, gingen zu Boden. Und mir … erging es jetzt ähnlich. Als hoch qualifizierte Führungskraft gab es schlicht keine Jobs mehr nach den Ereignissen in den USA.
Das Freistellungsgespräch verlief extrem ungeschickt und sehr, sehr verletzend. Kurzum: Richtig, richtig fies. Zusammen mit der fehlenden beruflichen Perspektive lag hier einer der Auslöser meiner späteren Depression. Weil ich empfand, dass mir die Zukunft genommen wurde. Ich war … in der Opferrolle. Die Terroristen waren schuld. Mein ehemaliger Chef war schuld. Mein Geschlecht (weiblich), mein Alter (noch gebährfähig), mein letztes Gehalt (zu hoch) waren schuld. Die Firmen waren schuld, weil sie Marketing plötzlich für sehr verzichtbar hielten. Die Welt war einfach nur doof.
Die Rechnung mit der Resilienz
Nach einigen Monaten des Rück-Umzugs von München nach Mettmann, der unschönen Anmeldung bei der Arbeitsagentur, der frustrierenden Jobsuche und des tiefen Selbstmitleides präsentierte mir meine Resilienz die Rechnung:
„Kannste so machen, doch das wird langfristig richtig teuer. Denn wenn du so weitermachst, wird das nix mehr mit der Lebensfreude…“ ließ sie mich wissen.
Also begann ich, mich in Sachen Alternativen umzuschauen. Schon kurze Zeit später legte ich den Grundstein für meine zweite unfreiwillig begonnene (die erste war ja die Verlagsübernahme nach Arnulfs Tod) Selbstständigkeit. Das war Ende 2001. Am 01.08.2002 gründete ich - aus der Arbeitslosigkeit kommend - mein Unternehmen Rent-Ability Entwicklungsmanagement. Eine kreative Unternehmensberatung mit einer vom Profi entwickelten orangefarbenen Chilischote als Logo.
Das mit dem Corporate Design hatte ich ja bei der Postbank verinnerlicht. Den Businessplan zu schreiben, dafür waren meine Bankausbildung und meine Berufserfahrung hilfreich. Und so war ich ein von ganz wenigen Gründerinnen, die von der DTA (Deutsche Lastenausgleichsbank) mit einem 50.000-€-Darlehen gefördert 2002 gründen konnten. Es folgten viele Jahre auf der unternehmerischen Achterbahn, die ganz sicher zu einer weiteren Geschichte reichen würden.
Heute bin ich eine erfolgreiche Unternehmerin (sich als „Unternehmerin“ zu sehen fühlt sich übrigens ganz anders an, als „selbstständig zu sein“!) und bringe mit meinem Mentoring Menschen wie Dich vor Publikum zum Strahlen. Indem ich Dich zu Deinem persönlichen Stil ermutige und Dir die Erlaubnis zur Imperfektion gebe. Mit Mikro auf der Bühne, dem Marker am Flipchart und als Moderator vor der Webcam. Damit Du besser ankommst und Deine Teilnehmenden für Dich und Deine Themen begeisterst.
Und DAS ist genau das, was sich heute für mich stimmig und richtig anfühlt. Meine Kunden bezeichnen mich als Ermutigerin und trauen sich mit mir an der Seite aus diversen Komfortzonen.
Mein Learning No. 4: #IMPERFEKTIONrockt
Das ist mein Hashtag in Sachen Business. Ob am Flipchart beim Zeichnen, mit dem Mikro auf der Bühne oder im Online-Meeting vor der Webcam: Ich habe gelernt, dass mich 100 oder gar 120 % Leistung komplett auspowern und vom Kunden weder wertgeschätzt noch bezahlt werden. Im Gegenteil: Will ich 100 %, werde ich langsamer und für den Kunden weniger nahbar. Ich wirke unsympathischer.
Daher mein letzter Impuls für Dich: Lebe und arbeite lieber nach dem Motto „better done, than perfect“. Damit ermutigst Du Dich, einfach anzufangen - und im Prozess nach und nach besser werden zu dürfen. Statt in Schönheit starr auf den ersten Schritt zu warten und NIE zum Ziel zu gelangen.
Heute gestalte ich meinen Job selbst, bestimme weitgehend über meinen Tagesablauf und kann meine Persönlichkeitsfacetten von Kreativität über Disziplin, von Ermutigung bis Rampensau ausleben. Mein Leben ist "bunt".
Alles im Leben hat Vor- und Nachteile
Ich kann mich und meinen Job sich ändernden Rahmenbedingungen anpassen oder meinen Einsatz zeitweilig reduzieren. Ich kann die Reihenfolge meiner Arbeit, die Auswahl meiner Kunden, meinen Wecker am Morgen und meinen Feierabend selbst bestimmen.
Der Preis für diese Freiheit ist, dass ich für alles (!!!) selbst verantwortlich bin. Dass ich vieles selbst machen „darf“ oder gegen Geld an kompetentere Menschen auslagere.
Doch wer ein starkes „Warum“ hat, der nimmt auch die unangenehmeren Aufgaben billigend in Kauf. Weil sie dem eigenen Sinn im Leben und höheren Zielen dienen.
Und das ist am Ende eh das, was uns aufrecht hält, oder? Diesen Blick auf das "Große Ganze" braucht jeder einzelne Neuanfang. Und wer sich traut, wird am Ende mehr als oft belohnt. Ich bin heute schon sicher, dass in meinem Leben noch einige Neuanfänge warten werden. Klar habe ich davor oft Respekt. Doch heute bin ich sicher, dass ich jeden einzelnen davon schätzen und bewältigen werde. Denn Lebensfreude findet außerhalb unserer bequemen Komfortzone statt.
Ich mag es genau so.













